Post Bellum – Gedächtnis der Nation

ZEITZEUGENAUSSAGEN ZUM TOTALITARISMUS DES 20. JAHRHUNDERTS IN MITTELEUROPA

4.2.2021


Die Sammlung ‘Gedächtnis der Nation’ ist Europas größte Kollektion von Zeitzeugenaussagen zum Totalitarismus des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Sie enthält circa 10.000 Zeugnisse von Menschen, die sich totalitären Systemen widersetzten oder aber ihnen dienten. Die Sammlung wird ständig erweitert. Die Organisation ‘Post Bellum’, die die Seite betreibt, macht die Inhalte durch Ausstellungen, Bücher oder Film- und Radiodokumentationen einer breiten Öffentlichkeit frei zugänglich.
Gerade in unserem Grenzraum ist die Aufarbeitung der alten Wunden, die der Krieg in die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Böhmen und Bayern schlug enorm wichtig.


OTTO RINKE

Das Leben als Sohn eines deutschen Polizisten und einer Tschechin.
Er wurde am 15. September 1943 in Tábor geboren.


Sein Vater Otto Rinke sen. wurde in Tábor (Südböhmen) als Mitglied der Schutzpolizei zugeteilt. Hier traf er die aus Tábor stammende Helena Samcová. Von Anfang an lehnte die Familie von Helena die Beziehung zu Otto ab, da sie ihre Tochter nicht mit einem Mitglied des feindlichen Reiches sehen wollten und die Mutter weigerte sich dann sogar, zur Hochzeit zu gehen. Selbst die Geburt ihres Enkels konnte sie nicht erweicht. Das Kind, Otto Rinke jun., wurde einen Monat vor der Hochzeit, die nur nach eingehender Untersuchung der Herkunft der Braut und der Regelung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft, einer Bedingung der Ehe, möglich war, geboren. Helena wurde von ihren Bekannten nach und nach
gemieden. Die junge Familie wurde dadurch zunehmend isoliert.

TRAGISCHE SCHICKSALE IN DEN ERSTEN LEBENSJAHREN

Anfang Mai 1945 kam der Befehl, dass alle Deutschen dringend zur Podolský-Brücke ziehen müssen, wo die Demarkationslinie verlief. Otto Rinke sen. hatte nicht einmal Zeit, sich von seiner Familie zu verabschieden. Im Rahmen des Gefangenenaustauschs wurde er nach Dnepropetrowsk transportiert. Im Herbst 1946 kehrte er aufgrund einer Typhuskrankheit in das heutige Niedersachsen zurück. Bereits im Februar des folgenden Jahres rief er verschiedene Organisationen (einschließlich des Roten Kreuzes) auf, um den Transport seiner Frau und seines Sohnes zu ihm zu arrangieren. Er wusste nicht, dass seine Frau 1946 gezwungen worden war, die tschechische Staatsbürgerschaft zu beantragen, da keine Nachrichten über ihn vorlagen, und dass sie beschuldigt wurde, den Kontakt zu den Deutschen
aufrechtzuerhalten. Ebenfalls wusste er nicht, dass seine Ehe im Oktober 1945 ohne Verschulden der Parteien geschieden wurde. Daher teilten ihm die Behörden nicht einmal mit, dass Helena am 15. Juli 1947 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.

TROTZ DER NOT EINE SCHÖNE KINDHEIT BEI DEN GROSSELTERN

So blieb der dreieinhalbjährige Otto bei seinen Großeltern. Sein Großvater wollte seinen einzigen Enkel, einen halben Deutschen, in ein Waisenhaus bringen. Die Großmutter verteidigte jedoch ihren Enkel. Die dramatischen Ereignisse wirkten sich auf die Gesundheit ihres 1948 verstorbenen Mannes aus.

„Es war damals undenkbar, finanzielle Unterstützung zu fordern, weshalb meine Großmutter in existenzielle Probleme geriet.“

Otto Rinke sen. versuchte, die Existenz seines Sohnes zu sichern – er schickte Kleidung, Spielzeug und später Schulmaterial. Die Gesetzeslage war jedoch so streng, dass die Großmutter gezwungen wurde, diese Pakete zurückzugeben. Trotz seiner Not hatte Otto Rinke bei seiner Großmutter eine schöne Kindheit.

HÜRDEN IM BERUFSLEBEN WEGEN DEUTSCHER HERKUNFT

Nach der achtjährigen Grundschule besuchte Otto die Handelsschule der Firma Kovosvit. Dank guter Ergebnisse wurde ihm der Besuch einer abendlichen Gewerbeschule und später das Fernstudium an der Tschechischen Technischen Universität angeboten. Otto Rinke hat sein gesamtes Berufsleben bei Kovosvit verbracht. Aber auch dort erwies sich seine deutsche Herkunft als Hindernis:

„Ich sollte einen neuen Job in einer Abteilung beginnen, die an klassifizierten Projekten arbeitete. Die Abteilung
wurde als „Testgelände“ bezeichnet. Jahre später stellte ich fest, dass ich aufgrund meines familiären Hintergrunds
nicht dorthin wechseln konnte. Sie hatten Angst ich sei eine ‚Undichte Stelle'“

WIEDERSEHEN MIT DEM VATER NACH 21 JAHREN

Otto Rinke sen. gab seine Bemühungen nicht auf, seinen Sohn zurückzubekommen. Aufgrund der politischen Situation in den 1950er Jahren verlor er jedoch alle Gerichtsverfahren. Er kämpfte weiter für ein Treffen mit seinem Sohn, auch nachdem er 1957 eine neue Familie gegründet hatte. Als es endlich so aussah, als könnte Otto Rinke seinen Vater besuchen, kam ein zweijähriger Militärdienst dazwischen. Vater und Sohn trafen sich erst im Juli 1966 am Bahnhof in Eschershausen. Nach einundzwanzig langen Jahren.

„Es gab ein Bahnhofsrestaurant, in dem ich mit meinem gebrochenen Deutsch Tee bestellte. Ich wartete ab halb vier,
die Zeit, die ich für meine Ankunft angekündigt hatte. In der Zwischenzeit kamen drei Personen ins Restaurant.
Dann schlich sich einer von ihnen zu mir, begrüßte mich höflich und fragte, ob ich Rinke Junior wäre. Ich bejahte
dies und er sagte, er sei mein Vater.“

Obwohl Otto Rinke einen Monat in Eschershausen verbrachte, konnte er aufgrund der langen Trennung seinem Vater nicht wirklich näherkommen. Dies war einer der Gründe, warum er dessen Angebot in Deutschland zu bleiben ablehnte. Der Hauptgrund war jedoch, dass er sich seiner Großmutter verpflichtet fühlte, die er in der Tschechoslowakei hätte allein lassen müssen. Otto Rinke besuchte seitdem regelmäßig seinen Vater; später mit seiner Frau und seinen Kindern. Bis 1989 gingen den Besuchen Verhandlungen mit der Staatssicherheit voraus.

„Jedes Unternehmen hatte einen zugewiesenen Mitarbeiter. Alles was vor sich ging, wussten sie. Ich wurde regelmäßig
kontaktiert, bevor ich nach Deutschland ging. Am Telefon sagte eine Stimme: ‚Genosse Rinke, ich warte dort und da auf
Sie.‘ Und wir gingen zum Beispiel zur Podolský-Brücke, wo es Gesprächskabinen gab. Der einleitende Satz lautete:
‚Wir wissen, dass Sie um ein Visum bitten, wir möchten wissen, mit wem Sie in Kontakt stehen, wer Sie kontaktiert hat.‘
Und wenn ich wieder zurückkam, war es genauso. Wir haben uns getroffen, wir sind spazieren gegangen, er hat mich  interviewt und mich dann in Ruhe gelassen.“

Otto Rinke hat keiner Zusammenarbeit zugestimmt.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs waren die Besuche einfacher und häufiger und hörten auch nach dem Tod von Otto Rinke sen. im Jahr 2006 nicht auf. Derzeit lebt nur seine Stiefmutter in Deutschland, die noch im fortgeschrittenen Alter Kontakt zu tschechischen Verwandten unterhält. Nur sie kann sagen, wie viel Mühe, Verlust und kleine Siege das Leben eines deutschen Polizisten beinhaltet, der sich zur falschen Zeit in ein tschechisches Mädchen verliebte.

Otto Rinke jun. verstarb am 14. Mai 2020 nach kurzer schwerer Krankheit.


Mehr von diesen Lebensgeschichten unter:
www.memoryofnations.eu/en