Post Bellum – Gedächtnis der Nationen

Zeitzeugenaussagen zum Totalitarismus des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa

11.11.2020


Die Sammlung ‚Gedächtnis der Nation‘ ist Europas größte Kollektion von Zeitzeugenaussagen zum Totalitarismus des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Sie enthält circa 10.000 Zeugnisse von Menschen, die sich totalitären Systemen widersetzten oder aber ihnen dienten. Die Sammlung wird ständig erweitert. Die Organisation ‚Post Bellum‘, die die Seite betreibt, macht die Inhalte durch Ausstellungen, Bücher oder Film- und Radiodokumentationen einer breiten Öffentlichkeit frei zugänglich.
Gerade in unserem Grenzraum ist die Aufarbeitung der alten Wunden, die der Krieg in die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Böhmen und Bayern schlug enorm wichtig.


Etliche Neuanfänge in einer fremden Heimat

Das Schicksal einer der letzten sudentendeutschen Vertreterinnen des Böhmerwälder Dialekts

Emma Oser wurde am 2. Februar 1937 in einer deutschen Familie mit insgesamt fünf Kindern in dem grenznahen Hüttenhof – Huťský Dvůr geboren. In dem kleinen Ort sprachen fast alle Familien den in der Region verbreiteten, sudentendeutschen Böhmerwälder Dialekt. Heute ist sie eine der letzten in Tschechien, die diese Mundart noch beherrscht.

Ihr Vater Johann trat in den dreißiger Jahren in die NSDAP ein, da er an den nationalsozialistischen Politiker und späteren Gauleiter Konrad Henlein glaubte, der armen Familien einen sozialen Aufstieg versprach. Johann war jedoch nur ein halbherziges Parteimitglied und während des Krieges ausschließlich mit dem Lebensunterhalt seiner Familie beschäftigt.

Als ihn seine Bekannten und Nachbarn gegen Ende des Krieges rieten, mit seiner Familie zu fliehen, wies er sie nur lakonisch ab. Er habe nie jemandem Schaden zugefügt und müsse deswegen auch nirgendwohin fliehen.
Unmittelbar nach Ende des Krieges im Mai 1945 wurde er jedoch verhaftet und in Budweis eingesperrt.

Ein gutes Jahr später und nur drei Tage nachdem der letzte Sondertransport für auszusiedelnde Sudetendeutsche abgefahren war, kam er frei. Zu diesem Zeitpunkt war eine Ausreise nicht mehr gestattet und die Familie Oser war gezwungen, in der Tschechoslowakei zu bleiben. Obendrein sorgte der Staat bald dafür, dass die Familie ihren Heimathof verlassen und nach Jáchymov ziehen musste. Dort zwang man ihn in den Uranminen zu arbeiten, in denen als Kriegsverbrecher eingestufte Menschen unter unmenschlichen Bedingungen schuften mussten.

In Jáchymov besuchte die Jugendliche Emma eine tschechische Schule. Deutsch zu sprechen war streng verboten. Sie hatte jedoch Glück, dass ihr Lehrer der aufgeklärte Pädagoge Miroslav Dědič war. Er gab z.B. rationiertes Obst nicht wie andere Lehrer nur den tschechischen Kindern, sondern teilte die begehrten Orangen unter deutschen und tschechischen Kindern gerecht auf. Diese relativ glückliche Zeit für Emma dauerte aber nicht lange.

Ihr 20-jähriger Bruder Hermann war es vom Böhmerwald her gewohnt, die Grenze frei zu überqueren. An einem Abend im Mai 1951 wollte er mit zwei Freunden und seiner Freundin zum Tanzen in ein deutsches Dorf kurz hinter der Grenze gehen. Am nächsten Morgen war sein Bett leer und Emma erfuhr in der Kirche, dass in der Nacht an der Grenze Schüsse gefallen und alle drei Jungen tot seien. Anderthalb Jahre später kehrte die ganze Familie nach Südböhmen zurück, wo sie dann in Vyšné in einem Haus mit einer rumänisch-slowakischen Einsiedler-Familie wohnte. Emma arbeitete nun als Krankenschwester im Krankenhaus von Český Krumlov. Das schwierige Zusammenleben zweier ganz unterschiedlicher Familien war jedoch nicht von langer Dauer. So zogen die Eltern bald mit ihren heranwachsenden Töchtern zuerst nach Větřní und anschließend in ein eigenes Haus in Němče.

Im Laufe der ganzen Zeit beantragte die Familie Oser 13 Mal, nach Deutschland auswandern zu dürfen. Es wurde jedoch nie genehmigt. Im Jahr 1965 heiratete Emma Oser Karel Marx und sie zogen gemeinsam nach Větřní bei Český Krumlov.
Im Jahr 1967 bekam Emmas Bruder Johann mit dem 14. Antrag endlich eine Genehmigung zum Verlassen des Landes. Er zog mit seiner Familie und der über 60 Jahre alten Mutter nach Deutschland. Der Vater war zu dem Zeitpunkt nicht mehr am Leben. Emma und ihr Mann blieben in der Tschecheslowakei. Im Jahr 1968 wurde ihre Tochter Gabriele geboren.

In der deutschsprachigen Familie pflegte Emma den Böhmerwälder Dialekt immer weiter, und heute ist sie eine der letzten nativen Sprecherinnen. Sie arbeitete in Větřní in der Papierfabrik und danach auch im örtlichen Kindergarten. Im Jahr 1989, zur Zeit der „Samtenen Revolution“, hatte Emmas Tochter Gabriele mit ihrem Antrag zur Ausreise nach Deutschland Erfolg. So überwand sie als eine der letzten die schon fast nicht mehr existierende Staatsgrenze der Tschechoslowakei.

Bereits verwitwet entschied sich Emma Marx jedoch in der Tschechoslowakei zu verbleiben. Geprägt von ihrer Geschichte engagierte sie sich nach der Wende in unterschiedlichen gemeinnützigen Vereinen und bei Aktionen, die sich für das Zusammenwachsen der tschechischen und deutschen Nachbarn und auch für die Erneuerung von verfallenen Gedenkstätten einsetzen. Als aktive Seniorin erzählte Emma Marx ihre Geschichte für Memory of Nations im Dezember 2019.


Mehr von diesen Lebensgeschichten unter:
www.memoryofnations.eu/en