Die mediale Vernachlässigung des Globalen Südens

Von 10. Februar bis 31. März macht die Wanderausstellung „Vergessene Welten und blinde Flecken“ Station an der Universität Passau

PASSAU | 08. FEBRUAR 2023

Die Ausstellung zeigt die wichtigsten Ergebnisse einer Langzeitstudie, in der die Berichterstattung in verschiedenen Leitmedien hinsichtlich der geografischen Verteilung der Beiträge untersucht wurde.

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Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Staaten in der „Tagesschau“-Hauptsendung in den Jahren 2007-2021 erwähnt wurden. | Grafik: Ludescher

Die Ausstellung thematisiert die Frage, inwiefern Medien einen blinden Fleck aufweisen, wenn es sich um den Globalen Süden (sog. Dritte Welt- bzw. sog. Entwicklungs- und Schwellenländer) handelt. „In der ersten Jahreshälfte 2022 wurde in der ´Tagesschau` über das britische Königshaus umfangreicher berichtet als über den globalen Hunger; und dem Sport mehr Sendezeit eingeräumt als allen Staaten des Globalen Südens zusammen“, erläutert der Urheber der Ausstellung Dr. Ladislaus Ludescher von der Goethe-Universität Frankfurt am Main. „Die Hungersnot 2017 in Ostafrika und der Tschadseeregion, die UN-Nothilfekoordinator Stephen O’Brien als größte drohende humanitäre Krise seit der Gründung der Vereinten Nationen bezeichnet hatte, wurde kaum beachtet. Ebenso wenig die größte, jemals in der Geschichte gemessene Cholera-Epidemie in Jemen 2017.“

Im „Corona-Jahr“ 2020 habe sich die Situation sogar noch zugespitzt, so Ludescher. In nur etwa fünf Prozent der Sendezeit, in der sich die ´Tagesschau` mit der Pandemie beschäftigte, habe sie über die Lage im Globalen Süden berichtet. Viele Katastrophen, wie die Zunahme der Hungernden auf der Welt in dieser Zeit auf insgesamt 820 Millionen, wurden fast gar nicht berücksichtigt, so Ludescher weiter. Hierzu gehörten zum Beispiel auch die Auswirkungen des Super-Zyklons „Amphan“, der im Mai 2020 Küstenregionen von Indien und Bangladesch verwüstete und von dem ca. 60 Millionen Menschen betroffen waren.

Die Wanderausstellung ist vom 10. Februar bis 31. März 2023 in der Universitätsbibliothek Passau
zu sehen. Der Eintritt ist frei.

Fragen und Antworten von Dr. Ladislaus Ludescher

Worum geht es in der Ausstellung „Vergessene Welten und blinde Flecken“?

Die Ausstellung „Vergessene Welten und blinde Flecken“ beruht auf einer gleichnamigen Studie, die stetig fortgesetzt wird und an der ich mittlerweile ca. 10 Jahre gearbeitet habe. In der Ausstellung geht es um die Frage, über welche Länder und Regionen sogenannte Leitmedien wie die „Tagesschau“ berichten und vor allem auch, welche Gebiete nicht oder kaum erwähnt werden. Es zeigt sich, dass die Länder des Globalen Südens – früher auch Dritte Welt-Staaten oder Entwicklungsländer genannt – in den Nachrichten massiv vernachlässigt werden. Nur ein Bruchteil der verfügbaren Sendezeit entfällt auf diese Staaten.

Was hat Sie persönlich bewegt, der Frage nachzugehen, wie die Medien über Teile unserer Welt berichten oder eben nicht?

Die Frage, worüber berichtet und insbesondere worüber nicht berichtet wird, ist von allergrößter Bedeutung. Der Soziologe Niklas Luhmann schrieb einmal: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Medien haben also eine sehr große Verantwortung, da sie entscheiden, welche Meldungen es in die Nachrichten schaffen und sie dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit lenken können. In Nachrichtensendungen wie der „Tagesschau“ fiel mir auf, dass über manche Staaten – die Länder des Globalen Südens – nur sehr selten berichtet wurde. Das war zunächst jedoch nur ein subjektiver Eindruck, den ich gerne durch eine empirische Untersuchung verifizieren wollte. Die Zahlen haben gezeigt, dass der Globale Süden sogar noch mehr vernachlässigt wird, als ich zunächst angenommen hatte.

Wenn Sie auf Ihre Ergebnisse blicken, was hat Sie daran am meisten überrascht?

Überraschend war für mich – und diese Rückmeldung erhalte ich auch immer wieder von Personen, die sich mit den Ergebnissen der Studie bzw. Ausstellung beschäftigt haben – der Grad der Vernachlässigung der Länder des Globalen Südens. Dass diese Staaten in den Nachrichten nur eine sehr untergeordnete spielen, ist vielen Beobachtern klar. Aber wie stark der Globale Süden z.B. in der „Tagesschau“ vernachlässigt wird – das wird auf den entsprechenden Karten der Ausstellung deutlich – ist für viele doch eine Überraschung. So erging es mir auch, als ich die konkreten Ergebnisse zum ersten Mal visualisiert sah.

Mit Blick auf unsere heutige Zeit – ganz aktuell steht Corona stark im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit - welche Erfahrung kann ein*e Besucher*in machen, die*der in unserer aktuellen Ausstellung Ihre Studienergebnisse kennenlernt?

Ich habe die Studie in den vergangenen Jahren fortgesetzt, so auch für die „Corona-Jahre“ 2020 und 2021. In dieser Zeit hat sich die Vernachlässigung des Globalen Südens sogar noch weiter intensiviert und das, obwohl viele Staaten wie Indien und Brasilien massiv von den Auswirkungen des Virus betroffen waren bzw. sind. Im Jahr 2020 hat die „Tagesschau“ in ca. 50% ihrer Sendezeit über das Virus berichtet. Von dieser Sendezeit entfielen aber nur 5% (!) auf die Länder des Globalen Südens. In etwa Zweidrittel der „Corona-Sendezeit“ beschäftigte sich die „Tagesschau“ mit den Entwicklungen in Deutschland, in etwa 29% der Zeit mit dem Folgen im Globalen Norden, insbesondere in den EU-Ländern und den USA.

Was ist das Ziel Ihrer Arbeit, was möchten Sie gerne vermitteln? Wobei kann uns Ihre Arbeit helfen?

Mein Ziel ist es, auf einen Missstand hinzuweisen. Bei diesem handelt es sich um die massive Vernachlässigung des Globalen Südens in den Medien und im öffentlichen Bewusstsein. Eine konsequente Berichterstattung ist die Voraussetzung für das Verständnis und letztlich auch die Lösung von Problemen. Wenn Medien nur „heimische“ bzw. „westliche“ Themen aufgreifen, sind sie anfällig für blinde Flecken, zu denen der Globale Süden gehört. Es gilt, die Aufmerksamkeit auf diese vergessenen Welten zu lenken, wo sich teilweise tagtäglich Katastrophen ereignen, die wir nur am Rande oder sogar gar nicht wahrnehmen. Jeden Tag sterben z.B. über 20.000 Menschen an den Folgen von Hunger. Dennoch wird in den Nachrichten hierüber fast gar nicht berichtet. Wenn Katastrophen, die sich jeden Tag ereignen, für alltäglich genommen werden und deswegen nicht mehr in den Nachrichten erscheinen, ist damit ein hohes Gefahrenpotential verbunden, weil wir dadurch für manche Probleme desensibilisiert werden. Ich hoffe, dass die Ausstellung dem ein wenig entgegentritt und die Besucher auf diesen Missstand aufmerksam macht. Meine Hoffnung ist es auch, dass sich die Besucher an die untersuchten Medien oder an ihre politischen Vertreter wenden und diese auffordern, den Globalen Süden stärker in den Fokus zu nehmen.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich möchte gerne untersuchen, wie „nichtwestliche“ ausländische Staaten die Welt medial wahrnehmen. D.h. wie die Berichterstattung in den Ländern des Globalen Südens, z.B. in afrikanischen oder lateinamerikanischen Staaten, aussieht. Interessant wäre auch eine Untersuchung der Medien und Berichterstattung in China und Russland.


Mehr Informationen sowie eine Video-Präsentation mit den wichtigsten Ergebnissen finden Sie unter
www.ivr-heidelberg.de.