INNSIDE INNTERVIEW: Dr. Carsten Gerhard

Tatort Nibelungenlied: 71. Festspiele Europäische Wochen mit Eigenproduktion

PASSAU | 5. JUNI 2023

Seit 2018 ist er nun Festivalchef bei den Europäischen Wochen. Dr. Carsten Gerhard ist Kulturmanager aus Leidenschaft. Das Wort Intendant hört er weniger gern. Dass Kultur auch Leiden schafft, hat er auch schon bei den EW erfahren, die er in ihrer größten Krise seit sie 1952 gegründet wurden, übernommen hat. Der Münchner Kulturmanager hat die EW aber nicht nur wieder stabilisiert, sondern schickt sich an, sie zu neuer Blüte zu führen. Auch die Coronajahre konnten den agilen Musikwissenschaftler nicht umwerfen. Zusammen mit seinem Team und der Vorsitzenden Rosmarie Weber erfand er die Europäischen Wochen einfach immer wieder neu. Ein Glücksgriff für Passau! Für die 71. Festspiele hat er nun wieder einige Überraschungen und Stars parat. Wir hatten Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihm.

Die Fragen stellte Gerd Jakobi | Fotos: Claudia Saller
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Zum zweiten Mal finden die EW im Zeichen eines kriegerischen Konfliktes in Europa statt. Was macht das mit den Festspielen?
Was macht der Krieg mit den Menschen in der Ukraine? Das ist für mich eigentlich die wichtigere Frage. Mit all den Menschen, die um ihr Leben, um ihre Angehörigen, um ihre materielle Existenz fürchten müssen, in der Ukraine, zum Teil auch in Russland. Die Festspiele möchten ihren Teil dazu beitragen, dass wir nicht in der Unterstützung der Ukraine nachlassen. Festredner in diesem Jahr ist Andrej Kurkow, bis Dezember 2022 Präsident des ukrainischen Schriftstellerverbandes. Er wird bei uns am 2. Juli aus seinen Werken lesen. Und wir präsentieren ukrainische Literatur von Gegenwartsautoren aus dem Krieg, in einer Lesung mit Athanor-Schauspielschülerinnen und -schülern (16. Juli).

Sie haben auch heuer ein spannendes Programm mit vielen bekannten Stars und sensationellen Künstlern zusammengestellt. Was sind Ihre persönlichen Highlights?
Den Reigen der Stars hat ja Anne-Sophie Mutter im Mai bei einer Art Präludium zu den Festspielen eröffnet. Wir freuen uns auf zahlreiche weitere Hochkaräter wie etwa Julia Fischer, die nicht nur Geige spielt, sondern vom Pult aus auch dirigiert (2. Juli, Engelhartszell) oder den Weltklasse-Pianisten Michail Pletnev, der das hochromantische zweite Klavierkonzert von Rachmaninoff präsentiert.

DAS WIRD EIN SPANNENDER THRILLER

Sie wagen sich in diesem Jahr an das Nibelungenlied als Auftragskomposition heran. Was hat es damit auf sich?
Das wird ein spannender, emotionaler Thriller, ein Live-Hörspiel mit Videoprojektionen. Das Nibelungenlied ist mutmaßlich vor 800 Jahren in Passau niedergeschrieben worden. Wir machen es wieder in der Stadt lebendig. Tatort-Schauspieler Miroslav Nemec liest Originaltexte, dazu spielen der Passauer Konzertverein und der EW-Festspielchor einen packenden Soundtrack. Die Sopranistin Theresa Pilsl singt den Solosopran, auch sie stammt aus Passau. Bewusst erzählen wir die Geschichte aus der Perspektive der Kriemhild – sie ist der Dreh- und Angelpunkt.

Die Spannbreite des Programms geht von Max Mutzke an der Ortspitze über die Weltstars Anne Sophie Mutter, Julian Fischer und Mikhail Pletnev bis zur Sandkünstlerin Anna Kehden in Pocking. Wenden sich die EW vom Konzept des reinen Klassikfestivals ab und öffnen sich einem breiteren Publikum?
Ja, natürlich möchten wir möglichst für viele Menschen Vieles bieten. Die EW waren und sind ein Multispartenfestival, auch das macht sie so aufregend.

Es fällt auf, dass Sie viele Veranstaltungen Open Air machen. Ist das ein Trend oder den immer noch fehlenden Konzertsälen geschuldet?
Open-Air-Konzerte bringen immer eine zauberhafte Atmosphäre mit. Auf der Waldbühne und an der Ortspitze macht es einfach besondere Freude, Musik zu erleben. An der Waldbühne steigern wir das Erlebnis noch mit Hilfe von Lichtspielen auf der Baumkulisse. Und klar: So viele Säle gibt es nicht in Passau, wo man 700, 800 Menschen versammeln kann.

MEHR WIR UND WENIGER ICH

Bei drei der Konzerte machen Sie heuer selbst eine Veranstaltung zur Einführung. Ist das ein neues Format, oder entstand das durch Publikumsnachfrage?
Ich mache seit 2019 solche Einführungsangebote, die auf rege Nachfrage treffen. Das freut mich natürlich. Man hört doch ein wenig anders, wenn man etwas über den Kontext der Werke und die Idee hinter dem jeweiligen Konzertprogramm weiß. Die Einführungen finden stets am Konzertort oder in unmittelbarer Nähe vor den Veranstaltungen statt.

Natürlich kennen wir Ihren Herzensfluss längst. Deshalb hier eine Variante unserer INNSIDE-Flussfrage: Worauf hätten sie gerne mehr kulturpolitischen Einfluss?
Auf ein nachhaltigeres Zusammenleben mit mehr Wir und weniger Ich!